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OPERA/WERKE, Stadtoper Graz in sieben Akten

3. Akt: DAS LIBRETTO
ein Buch von Yoko Tawada


Das Libretto von Yoko Tawada:
Was ändert der Regen an unserem Leben? Oder ein Libretto
konkursbuch Verlag



Autorin ist die in Hamburg lebende Yoko Tawada. Das eigenständige Textbuch zur Oper ohne Vertonong oder Gesang - einfach zum Lesen. (aus dem Faltblatt zur Stadtoper Graz)


          Lieber Peter, lieber Edgar,
          Das ganze hat 7 Teile und jeder Teil besteht aus
          zwei Spalten.
          Die linke Spalte erzählt eine genmanipulierte,
          griechisch anmutende, pseudojapanische Mythologie,
          die in Graz spielt. Die rechte Spalte entwickelt
          eine akustische Grammatik dazu mit Hilfe von Peters
          Tonaufnahmen.
          Viele Grüße,
          Yoko

          e-mail an Peter Ablinger und Edgar Honetschläger



          Stichworte von Peter Ablinger zu
          3. Akt (Das Libretto):

          die Worte
          Geräuschprotokolle und Fiktion
          das Gehörte und das Fantasierte
          das Lesen und die Vorstellung
          das Buch als Buch
          privates Lesen an privaten Orten

1-links. Introduktion. An der Mur.

Yukika: Trockne Nachtluft war es
die meine Mutter aus dem Hotelbett jagte
Kein Mond über dem Schlossberg
Keine Neonreklame der Wirtshäuser
Nur die Strassenbahn glänzte
bei jeder Laterne
Meine Mutter öffnete die Zimmertür
In ihrem Traum war sie zu Hause in Tokyo
wollte in die Küche gehen
und den Kühlschrank öffnen
da öffnete sich die Mur
mit tiefschwarzen Haaren
Meine Mutter sprang hinein
sie fiel senkrecht in die Tiefe
in die Hölle


Professor der Musikhochschule: Heiden werden nicht aufgenommen
weder in die Hölle noch in den Himmel.
Nur wir, die Prüfer der Musikhochschule, nehmen sie gerne auf.
1-rechts (CD 3-3)

0,01 Eine männliche und eine weibliche Stimme unterhalten sich.
Ein Paar Lederschuhe geht vorbei.
0,08 Der Reissverschluss eines Reisekoffers wird geöffnet.
Wäre ich ein Mikrophon, das eine Geschichte schreiben wollte,
würde ich mit der Beschreibung einer Reisenden beginnen,
die gerade in einem Hotelzimmer ihren Koffer öffnet.
Aber ein Mikrophon schreibt normalerweise keine Geschichte.
0,13 Schritte auf dem Flur. Sie entfernen sich.
0,17 Die Schuhsohlen der gehenden Person
reiben kurz gegen den Fussboden und machen ein Geräusch,
das sich ähnlich anhört wie der Reissverschluss von vorhin.
0,34 Ein leerlaufendes Rad eines auf den Kopf gestellten Kinderfahrrads.
0,41 Eine männliche Stimme spricht fünf Silben lang.
Die letzte Silbe wird freundlich in die Länge gezogen.
0,42 Die Tür eines Autos wird zugeknallt
0,46 Eine männliche Stimme schlägt vor,
mit der Strassenbahn zu fahren.
Der Angesproche bleibt unhörbar.
0,53 Ein kleines Kind gibt einen schmiegsamen Ton von sich.
Ein Mann antwortet ihm mit "ja, genau".

die beiden, sich gegenüberstehenden, selbständigen Texte: Fiktion (links) und Geräuschprotokolle (rechts); Seite 6 und 7 aus Yoko Tawadas "... Libretto".
Als Beispiel für die Verschränkung von Selbständigkeit und Verknüpfung, Text und Klang, hören Sie bitte folgenden
> Ausschnitt aus dem 1. Akt, Der Gesang (Tisch 3, Track 1), während Sie synchron die rechte Spalte lesen.


Das Buch zur Oper – oder: Was ändert der Regen an unserem Leben? Man könnte auch fragen: Warum fällt der Regen nicht von unten nach oben? Denn es ist so, dass auch hier der Normal-Fall von Oper umgekehrt wird. Zunächst war die Vorstellung des Klangs – der Gesang. Dann erst – konkret darauf sich beziehend – entstand das Libretto. Und zwar als autonomer Text. Als purer Lese-Akt. Ein Libretto also als Textgewebe über Klanggrund. Weder vertont noch gesungen. Ein eigenständiges Textbuch. In sich gegliedert als asynchrone Parallelaktion zwischen Geräusch und Geschichte. Die rechten Seiten zu lesen als fortlaufend in Lettern übertragene Klangfigurationen des stadt-(t)raum Realen. Literarisch gestaltete Geräuschprotokolle. Die linken Seiten lesbar als fiktionale Moment- Sammlung von Mythen des Alltags. Fremde Fügung und beiläufiges Schicksal ins vollkommen Poetisch-Surreale übertragen. Autonomie und Zufall einer Verfransung von Kunst-Ideogrammen fügen sich im literarischen Prozess zu epischen Episoden des höher-bedeutsamen Nebenbei. Ein Libretto als Literatur zu imaginären Noten. Oder: wie sich die Idee einer Musik ohne Noten zur Literatur verwandelt. Text: Wolfgang Hofer

          Yoko Tawada, Biografie

          Peter Ablinger: Entwürfe und Versionen zu DAS LIBRETTO, 2002
          pdf-Dokument, 380KB


          Denn das Buch ist der Mensch selber:
          Denn das Buch, da alle Heimlichkeit inneliegt, ist der Mensch selber. Er ist selber des Wesens aller Wesen, dieweilen er die Gleichheit der Gottheit ist. Das große Arcanum lieget in ihm selber. Allein das Offenbaren gehöret dem Geiste Gottes.
          (Jakob Böhme. 20.Sendbrief)


          Das Buch ist der Mensch selber
          Die Musik ist der Mensch selber
          Die Kulisse ist der Mensch selber
          Der Stuhl ist der Mensch selber
          Der Gesang ist der Mensch selber
          ...

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1. Akt: DER GESANG
2. Akt: DAS ORCHESTER
3. Akt: DAS LIBRETTO
4. Akt: DIE HANDLUNG
5. Akt: DIE KULISSE
6. Akt: DIE BESTUHLUNG
7. Akt: DAS PUBLIKUM


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